Winterreise - Ein Gewaltmarsch

Eine szenische Bearbeitung des Liederzyklus’ von Franz Schubert und Wilhelm Müller mit Gedichten von Miklós Radnóti im Gedenken an die Schlacht von Stalingrad

Die Gedichte von Wilhelm Müller, die Franz Schubert für seinen Zyklus „Winterreise“ 1827 vertont hat - in Müllers Todesjahr und einem Jahr vor seinem eigenen Tod -, zeichnen ein einsames Bild eines Menschen, der sich nach Wärme sehnt.
Er ist isoliert in seiner unverstandenen Sehnsucht nach einem blühenden Leben, das unter einer dicken Eisschicht verborgen liegt.
Sicherlich ist es auch die Erfahrung Müllers als Soldat im Krieg gegen Napoleon, zu dem er sich freiwillig gemeldet hatte, die man aus diesen Gedichten herausliest.

In unserem Projekt „Winterreise – ein Gewaltmarsch“ verknüpfen wir die Befindlichkeit dieses einsamen Menschen mit dem Feldzug nach Rußland, den Hitlers Armee genau vor 70 Jahren unternahm.

Besetzung

Text: Wilhelm Müller, Miklós Radnóti
Musik: Franz Schubert, Franz Liszt

Ensemble der Schlüterwerke:
Ulla Pilz
Ingala Fortagne
Andrea Köhler
Stephanie Schmiderer
Béla Bufe
Katharina Weinhuber
Donka Angatscheva

Regie: Markus Kupferblum
Kostüme: Ingrid Leibezeder
Masken: Atelier Chiarivari, Basel
Dramaturgische Beratung: Ulla Pilz
Regieassistenz und Pressebetreuung: Mag. Lena Arends
Produktionsleitung: Johanna Jonasch

Programm

Hunderttausende deutsche und österreichische Soldaten, die meisten kaum 20 Jahre alt, zogen durch unendliche verschneite Ebenen Rußlands in den immer sicherer werdenden Tod. Sie zogen mordend und brandschatzend durch Länder, in denen sie absolut nichts verloren hatten, außer eine größenwahnsinnige politische Idee eines Diktators zu verfolgen, die durch nichts zu untermauern war, außer mit dem Blut dieser Jugendlichen. Dabei waren jeder für sich isoliert, mit den Erinnerungen an eine Welt, aus der sie brutal gerissen worden waren und den Sehnsüchten von einem Leben, das sie hofften später einmal leben zu dürfen. Kurt Vonnegut nannte den 2. Weltkrieg „Kinderkreuzzug“, den er selbst als 19-jähriger nur durch Glück überlebte. Die meisten der Millionen junger Männer kamen ums Leben, die meisten verhungerten, erfroren oder starben an Fleckfieber, das von Läusen übertragen worden war. Doch auch die Kriegshandlungen verursachten einen gewaltigen Blutzoll. Allein in der Schlacht von Stalingrad im Februar 1943 starben über 700.000 Menschen.

Die grausame Dimension eines Gewaltmarsches werden wir durch die Gedichte von Miklós Radnóti erfahrbar machen.
Dieser ungarische Dichter kam bei einem Gewaltmarsch in ein Gefangenenlager 1944 durch einen Genickschuß ums Leben, da er zu schwach war, weiterzumarschieren. Seine Leiche wurde aus einem Massengrab exhumiert. Bei dieser Gelegenheit fand man in der Innentasche seiner Jacke diese Gedichte.

Musikalisch werden wir sowohl die Vertonungen der Winterreise durch Franz Schubert auf einem Blüthner Flügel spielen, als auch die Transkriptionen dieser Kompositionen durch Franz Liszt auf einem Bösendorfer Konzertflügel.

Ausstellung
„Stalingrad - Eine Begegnung“
Anlässlich der Vorstellungen unserer Winterreise zeigen wir einige Exponate der Ausstellung „Stalingrad - Eine Begegnung“ der VHS Hietzing. Diese veranschaulichen, wie heute an die Schlacht von Stalingrad, die den Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs und ein Massengrab für hunderttausende Deutsche und Sowjets darstellte, in Volgograd erinnert wird. „Stalingrad - Eine Begegnung“ ist zugleich eine Spurensuche und der Versuch auch die Geschichte einiger Wiener zu dokumentieren.
Die Ausstellung wurde von Dr. Robert Streibel, Direktor der VHS Hietzing und Historiker, kuratiert. Am 22. Juni findet anschließend an die Vorstellung gemeinsam mit ihm und Markus Kupferblum ein Publikumsgespräch zum Thema „Stalingrad“ statt.

Publikumsreaktionen

Lieber Markus, 
Du bist ein Zauberer des Minimalismus, was Dir und Deinen Schauspielern mit scheinbar so sparsamen MItteln gelungen ist, hat uns beide, Inge und mich, tief beeindruckt. 
Ich würde mich aber sehr freuen, den Text lesen zu können. 
Dein
Hellmut Butterweck

Presse

European Cultural News:

 

Der lange Weg der Seele

Von

Michaela Preiner

– 22. Juni 2013Eingestellt unter: Theater

 

Sechs dunkle Gestalten, gehüllt in schweres Tuch, an den Füßen geschnürte Stiefel, nehmen auf der Bühne ihren Platz ein. Es gibt kein Bühnenbild, das einen bestimmten Ort beschreibt, keine technisch aufwendige Projektion, die von den Schauspielerinnen ablenkt. Ihre Präsenz ist das Einzige, das zählt. Schauspiel pur ist angesagt. Theater, welches nicht nur die ProtagonistInnen, sondern auch das Publikum fordert. Durch ihren Auftritt machen sie klar, dass sie sich auf einem Marsch befinden. Dass sie einen Weg beschreiten, der ihnen aufgezwungen wurde und der definitiv ihr letzter sein wird. Abwechselnd werden sie an diesem Abend zu Wort kommen, ihre Träume, Wünsche, Hoffnungen aber auch ihre Ängste beschreiben in der sicheren Gewissheit ihres herannahenden Todes.

 

Franz Schubert und Franz Liszt müssen nicht vorgestellt werden. Wilhelm Müller kennen meist nur eingefleischte Schubertfans. Er schrieb in seinem Todesjahr jene Verse, die der Komponist in seiner „Winterreise“ vertonte. Schnee und Eis versinnbildlichen darin jene Kälte, der Menschen ausgesetzt sind, wenn sie ihr Liebstes verloren haben. Miklós Radnóti, der dritte Ideengeber des Abends, ist über die Grenzen Ungarns so gut wie unbekannt. Sohn jüdischer Eltern, dessen Mutter und Zwillingsbruder schon bei seiner Geburt verstarben, hinterließ er nach seinem Tod, den er auf einem Gewaltmarsch mit jüdischen Mitgefangenen im November 1944 nahe der österreichischen Grenze erlitt, ein literarisches Werk, das trotz seines geringen Umfanges beeindruckt.

„Winterreise – Ein Gewaltmarsch“, so ist jene Produktion betitelt, die das „Ensemble Schlüterwerke“ an nur drei Abenden im Brick 5 in der Fünfhausgasse in Wien aufführt. Unter der Regie von Markus Kupferblum, dem Spiritus Rector des Ensembles, versetzen zwei Sängerinnen (Ingala Fortagne und Ulla Pilz), eine Tänzerin (Katharina Weinhuber), ein Schauspieler (Béla Bufe) und zwei Schauspielerinnen (Andrea Köhler und Stephanie Schmiderer) das Publikum bei über 30 Grad Sommertemperatur in besagte eisige Gefilde. Begleitet von der jungen Pianistin Donka Angatscheva, machen sie jene seelischen Nöte bildhaft, die im Februar 1943 über Hunderttausende von jungen Menschen hereinbrachen, die in Hitlers Russland-Feldzug nach Stalingrad geschickt worden waren. Von Miklós Radnóti sind es nur kurze Textpassagen, die in diesen Abend einfließen. Sie sind einem Notizbuch entnommen, das man nach seinem Tod in seiner Jackentasche fand. Darauf hatte der das Grauen festgehalten, das er erleben musste, und das er trotz Todesgefahr dennoch bereit war, anderen Menschen schriftlich mitzuteilen. In einem kleinen Epilog von ihm macht Ulla Pilz die Szenerie klar, in der sich dieser Abend abspielt. Lebende unter Sterbenden, sich auf den Tod vorbereitende, den Tod fürchtende, sich gegen ihn auflehnende oder ihn herbeisehnende junge Soldaten in schweren Stiefeln, schwarzen Overalls und dicken Wintermänteln bestimmen einzig und allein das Bild auf der Bühne. Über weite Strecken sind ihre Gesichter hinter großen, weißen Masken verborgen, die mit einem Ausdruck von tiefer Trauer ausgestattet sind. Nur wenn sie aus dieser anonymen Masse heraustreten und zu einem sprechenden, singenden oder tanzenden Individuum werden, legen sie diese ab.

Schuberts Musik, die teils in der Originalfassung, teils in der Bearbeitung von Franz Liszt einfühlsamst von Angatscheva gespielt wird, ist an diesem Abend jedoch nicht emotionaler Hauptträger. Vielmehr gelingt Kupferblum das Kunststück, Müllers Verse auf weite Strecken ohne Musikbegleitung in ihrer Schärfe, Prägnanz, und Hoffnungslosigkeit vorzuführen. Eine Dekonstruktion, welche die Verbindung zu jenem soldatischen Grauen erst ermöglicht, das vor 70 Jahren siebenhunderttausend Männern allein in den Kämpfen um Stalingrad das Leben gekostet hat. Kupferblums Herausarbeitung der unterschiedlichen Charaktere gelingt entlang der Müllerschen Textvorgaben dennoch erstaunlich präzise. Der Träumende, Aufbegehrende, der Traurige, Sehnsuchtsvolle oder Trotzige, sie alle sind im Text des deutschen Lyrikers klar angelegt. Die bekannte musikalische Fassung Schuberts, die sich in so mitreißenden Melodien ergeht, dass viele MusikliebhaberInnen die Winterreise leicht und flockig mitsingen können, deckt jedoch normalerweise Müllers Text völlig zu. Es ist aber nicht nur dieser geniale Regieschachzug, der den Abend zu einem Gelungenen werden lässt. Einen wesentlichen Anteil daran hat vor allem das gesamte Ensemble. Sowohl am Premierenvorabend als dann auch bei der eigentlichen Uraufführung musste es sich wegen der Hitze nicht nur künstlerischen, sondern auch extremen körperlichen Herausforderungen stellen. Dass sie diese meisterten, macht klar, auf welch hohem Niveau jeder und jede Einzelne von ihnen agiert.

Herauszuheben sind dabei vor allem die beiden Sängerinnen. Die zerbrechlich wirkende Ingala Fortagne beeindruckte dabei mit ihrem Mut, ihren Sopran nicht nur kraftvoll einzusetzen. Es war gerade die zarte Brüchigkeit ihrer Stimme in vielen Passagen, die unter die Haut ging, aber auch jener hoffnungslose Schrei, den sie an das Ende des Leiermannliedes setzte, der durch Mark und Bein ging. Als ihr gesanglicher Konterpart agierte Ulla Pilz, klug von der Besetzung ausgewählt. Ihr warmer Sopran harmonierte exzellent mit jenem von Fortagne und fügte dem auditiven Geschehen trotz derselben Stimmlage eine komplett andere Klangfarbe hinzu. Wer mag, liest dies als eine jener individualistischen Gesten, die als Hauptmotiv dieses Stückes gelten können und die Kupferblum in seiner Regie interessieren. Denn trotz all des namenlosen und zahlenmäßig nicht vorstellbaren Leids ist es das Einzelschicksal, das er in dieser Produktion in den Vordergrund stellt. Die inneren Monologe, denen sich das menschliche Individuum bis ans Ende seines Lebens immer und immer wieder ausgesetzt sieht und mit welchen es besonders in Krisensituationen zu kämpfen hat, sind es, die ihn faszinieren. Damit entkräftet er auch jeden Vorwurf, die Gräuel zu vernachlässigen, die von den deutschen Soldaten während dieses Feldzugs ausgingen. „Natürlich hat es dies alles gegeben“ erklärt er in einem kurzen Interview dazu. „Das möchte ich aber nicht in den Mittelpunkt des Geschehens setzen. Vielmehr ist es die Einsamkeit, in der jeder Mensch gefangen ist und die gerade dann spürbar wird, wenn man, obwohl von Tausenden umgeben, sich dennoch nicht adäquat mitteilen kann“.

Produktionen, die real erlebtes Leid und real erlittenen Tod künstlerisch umgewandelt auf die Bühne bringen, sehen sich meist vielerlei Angriffen ausgesetzt. Eines der Hauptargumente dabei ist, dass Kunst niemals das reale Geschehen wiedergeben kann, schlimmer noch, dieses für seine eigenen Zwecke nur missbraucht. Das stimmt uneingeschränkt. Und dennoch haben Vorstellungen wie diese ihre Berechtigung – ja mehr noch – sind unabdingbar. Sie erinnern nicht nur an schier unzählbare Opfer, sondern sie verweisen zugleich in unbestimmt Zukünftiges, das von uns noch gestaltet werden kann und für das wir selbst die Verantwortung zu übernehmen haben. Dass dabei gerade jetzt auch eine ungarische Stimme dazu beiträgt, mag zwar Zufall sein, sollte jedoch auch dazu führen, die aktuelle Lage in unserem Nachbarland beständig zu verfolgen und Menschen, die unserer Hilfe bedürfen, im gegebenen Fall nicht gleichgültig gegenüberzustehen. Eine ausgestreckte Hand oder auch eine Wortmeldung, in der der Wert jedes einzelnen Humanums explizit betont wird, kann Wunder wirken.

Die schwarzen Gestalten machen sich am Ende des Stückes daran, die Bühne wieder zu verlassen. Langsamen Schrittes sind sie dabei, den Weg nach draußen zu beschreiten. „Der lange Weg der Seele“, wie die charakterliche Reifung eines Menschen zuvor lyrisch ausgedrückt wurde, scheint beschritten. Umso mehr schmerzt das abrupte Ende im vollkommenen Dunkel, in dem nicht einmal mehr ein Herzschlag zu hören ist, denn es gibt kein Herz mehr, das schlägt. Für einen kurzen Moment ist man auf sich selbst zurückgeworfen und im Dunkel ganz alleine mit sich, seinem eigenen inneren Dialog und seinem Unbehagen. Dann endlich setzt er ein, der wohlverdiente und lang anhaltende Schlussapplaus, nach welchem man zurück in die tröstenden und ableckenden Arme der „Besuchermasse“ kehren darf.

 

 

 

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Der Standard:

 

derStandard.at › Kultur › Bühne › Musiktheater

Ein Kunstwerk erhält neuen Sinn

STEFAN ENDER 20. Jänner 2014, 17:42

foto: schlütergruppe

Holt Schubert unterm Glassturz hervor: das Ensemble Schlüterwerke.

Die Produktion "Winterreise - ein Gewaltmarsch" koppelt Schubert mit dem Zweiten Weltkrieg - auf überzeugende Weise

Wien - Die Grundidee ist schon einmal sehr überzeugend: Die Winterreise von Franz Schubert und Wilhelm Müller, das allseits geliebte Allertraurigste der Liedkunst, zu verbinden mit einer Winterreise, die sich im schrecklichsten aller bisherigen Kriege ereignet hat: mit dem Russlandfeldzug der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg, der für hunderttausende Soldaten tödlich endete. Der sonst in gediegenem Rahmen miterlittene Seelentod eines Einzelnen wird gekoppelt, geerdet mit physischem Massentod.

Markus Kupferblum, Kopf und Gründer des Ensembles Schlüterwerke, hat diese Kombination ersonnen und als Regisseur auch umgesetzt: Zwei Schauspielerinnen (Andrea

Köhler, Stephanie Schmiderer) und ein Schauspieler (Béla Bufe), zwei Sängerinnen (Ingala Fontane, Ulla Pilz) und eine Tänzerin (Katharina Weinhuber) streifen in schwarzen Mänteln und mit weißen Masken in einem Saal des Brick- 5 umher.

Von einzelnen Nummern wird "nur" der - gern etwas belächelte - Gedichttext von Müller vorgetragen, mal in soldatischem Ton, mal leiser; er gewinnt durch die außermusikalische Exponiertheit an Dichte.

Mal spielt Donka Angatscheva auf einem alten Flügel Liszts Bearbeitung des Liedzyklus, und dazu wird getanzt. Das eine oder andere Lied wird auch, ganz konventionell und sehr bewegend, mit Klavierbegleitung gesungen. Mitunter scheren Gesangsstimme und Klavier plötzlich in chaos- und improvisationsnahe, zeitgenössische Gefilde aus (etwa im Wegweiser). Textpassagen aus dem Flucht-Tagebuch des 1944 verstorbenen ungarischen Dichters Miklós Radnóti ergänzen das Material.

Dies ergibt in Summe einen fesselnden Abend, der unter die Haut geht. Kupferblum und seinen Künstlerinnen und Künstlern gelingt nicht alles, manche deklamatorische Manieriertheit und Exaltiertheit stört.

Dennoch bringt einem diese Produktion beides näher: sowohl Schuberts allzu vertrautes, allzu sehr unter dem Glassturz der Einzigartigkeit verwahrtes Kunstwerk als auch die schrecklichen Torturen und Ängste, die die größtenteils jungen Soldaten im russischen Winter vor rund sieben Jahrzehnten erleben mussten. (Stefan Ender, DER STANDARD, 21.1.2014)

24. bis 26.1., Brick-5, 15., Fünfhausgasse 5, 20.00

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DiePresse.com 18.06.13 18:06

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Das Schwert von Mutter Heimat

17.02.2012 | 18:39 | Von Robert Streibel (Die Presse)

200 Stufen führen auf den Mamajew-Hügel, 200 Tage wurde die Stadt belagert, 200 Meter trennten die Wehrmacht von der Wolga. Symbolik, wohin man blickt. Wie gedenkt man der Schlacht von Stalingrad? Ein Winterbesuch.

Stalingrad. In nur wenigen Stunden bin ich dort, ein Nachtflug nach Moskau, ein Morgenflug. So einfach ist das. Stalingrad ist ein Symbol. Wie wird daran erinnert? Von wem? Wie kann man dieser Schlacht gedenken? Am Flughafen in Wien warten viele Russen, sie kommen vom Skifahren, sie kommen von ihrem Wienbesuch, sie sind nicht mehr die Armen, die Underdogs. Jetzt sind wir froh wenn sie kommen. Als sich eine Frau in der Warteschlange unabsichtlich vordrängt, macht sie ihr Mann darauf aufmerksam, sie entschuldigt sich bei mir. Vor mir eine Familie mit einem kleinen Buben, er spielt mit einer Holzpistole, ausgeschnitten. Ob es das schon fertig zu kaufen gibt? Oder hat der Papa da mit der Laubsäge gearbeitet?

Stalingrad. So weit kam die Wehrmacht, so weit, und dann haben nur mehr 200 Meter gefehlt bis zur Wolga, so viel blieb übrig, so viel von Stalingrad war nicht erobert und sollte nicht mehr erobert werden. 200 Meter. Im Museum in Wolgograd liegt der lithografische Stein, vorbereitet, Flugblätter auf Russisch zu drucken: „Stalingrad ist gefallen. Ergebt euch. Moskau ist das Hirn des Landes, doch Stalingrad das Herz.“ Etwas voreilig. Stalingrad ist nicht gefallen.

Ich habe eine eigene Methode entwickelt, um mich Stalingrad zu nähern, ich habe den Schlachtverlauf nicht kontinuierlich verfolgt, sondern bin knapp vor dem Zeitpunkt eingestiegen, als die Wehrmacht eingekesselt wurde, und habe dann die folgenden Monate studiert. Erst nach der Kapitulation habe ich die Kapitel vor dem September 1942 gelesen, das Davor, die Bombardements. Und dann erst den Roman von Wiktor Nekrassow, die andere Sicht. Die Geschichte des ewigen sowjetischen Rückzugs, der Hoffnungslosigkeit und der Brutalität, mit der auch die Rotarmisten gezwungen wurden zu kämpfen. Der Befehl Stalins „Kein Schritt zurück“ musste in die Tat umgesetzt werden. Immerhin wurden 13.000 Rotarmisten als Deserteure bei der Schlacht um Stalingrad von ihren Kommandeuren erschossen. Der erzwungene Heldenmut. 200 Meter haben gefehlt, dann wäre die Wehrmacht in Stalingrad an der Wolga gewesen.

Die Wolga. Der Don lag schon hinter den Deutschen. Die Schönheit der Landschaft hat viele verzaubert, nachdem Tausende Toten ihren Weg gepflastert hatten: Partisanen, Frauen, Kinder, Mütter, Soldaten. Und dann stehen die deutschen Kämpfer und haben Tränen in den Augen und hören Franz Lehár, das Lied aus dem „Zarewitsch“. „Es steht ein Soldat am Wolgastrand, / hält Wache für sein Vaterland. / In dunkler Nacht allein und fern, / es leuchtet ihm kein Mond, kein Stern . . .“ Dass der Soldat im „Zarewitsch“ ein anderes Vaterland meint, das störte 1942 niemanden.

Auf dem Weg in die Ruhmeshalle auf dem Mamajew-Hügel, auf dem zur Figur der Schwert schwingenden Mutter Heimat 200 Stufen führen, ist rechts vom Eingang ein Sgraffito zu sehen, es zeigt einen Zug von kriegsgefangenen deutschen Soldaten, der sich nach rechts bewegt, Richtung Osten. „Ihr wolltet die Wolga sehen, wir haben euch das ermöglicht.“ Verständlicher Zynismus als Begleiterscheinung eines Pathos, dem sich keiner entziehen kann.

Im Hotel wartet meine historisch fachkundige Begleiterin Tatjana. Morgen um 10 Uhr beginnt die Rundfahrt. Heute soll ich mir unbedingt das kleine Museum ansehen, gleich im Warenhaus neben dem Hotel Intertourist. Im Keller, da ist der Raum zu sehen, in dem sich Generalfeldmarschall Friedrich Paulus für einige Tage vor seiner Gefangennahme aufgehalten hat.

http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/733194/print.do Seite 1 von 4

DiePresse.com 18.06.13 18:06

Das Reisebüro hat das richtige Zimmer für mich gebucht, direkter Blick auf das Mahnmal, den Obelisken und das ewige Feuer. Ich stehe nur kurz am Fenster und kann durch die von Reif verzierten Äste bemerken, wie Menschen die drei Stufen zum Feuer hinaufgehen und stehen bleiben, zuerst eine Frau, dann ein Mann, dann eine Familie mit einem Kleinkind. Der Obelisk erinnert an den Bürgerkrieg, er ist eines der drei Wunder von Stalingrad: Während kein Haus heil die Schlacht überstand, blieben der Obelisk, eine Platane und das Denkmal eines sowjetischen Fliegerhelden direkt an der Wolga unversehrt.

Das Warenhaus. Ein improvisierter Basar, Telefonstände, Glaspokale mit Gold, Geschirr, in einer Ecke kann man seine Rückenbeschwerden auf einer Massageliege kurieren. Der Weg in den Bunker führt vorbei an Schneewittchen, vollbusigen Frauen auf Kaffeehäferln, dazwischen Gnome, eine Giraffe, ein Putin-Bild. Bevor ich in den Gang mit den Relikten einbiege: ein offener Verkaufsstand für Militärkleidung und dann direkt davor ein Waffengeschäft, Pistolen, Gewehre, Pumpguns, automatische Waffen. Ich versuche, nicht zu fotografieren, der Security-Mann ist mit einer Schutzweste ausgestattet, schwingt begeistert seinen Schlagstock. Muss ja nicht sein.

Stalingrad ist die Wende des Krieges. Wie wird der Geschichte gedacht in diesem Keller? Improvisiert mit Puppen, ein Fahrzeug, eine Beiwagenmaschine, bemalte Wände, Dioramen. Im Natural History Museum in New York sind die ausgestopften Tiere vor solchen Gemälden platziert, hier Soldaten, auch mit Geräuschkulisse. Das Licht flackert, und damit man Paulus als Puppe erkennt, sind seine Umrisse mit Leuchtstreifen markiert. Ein improvisiertes Disneyland, gespenstisch. Ständig hört man Schritte von den Kauflustigen darüber, die Bretter im Boden, scheinen nur provisorisch verlegt und knarren beachtlich.

Die Rundfahrt beginnt. Was blieb von Stalingrad? Es sind bloß vier Gebäude, die so aufgebaut wurden, wie sie vor dem Krieg ausgesehen haben. Das Hotel Intourist, das Hotel Wolgograd und das Theater, das ehemalige deutsche Lazarett. Am Samstag sammeln sich einige Schüler und Schülerinnen, die Mädchen mit den weißen Schleifen im Haar, um vor dem Obelisken und der ewigen Flamme eine Mahnwache zu halten. 200 Stufen führen auf den Mamajew-Hügel, 200 Tage wurde die Stadt belagert und 200 Meter trennten die Deutschen von der Wolga. Symbolik, wohin man blickt. Der Platz des Kampfes mit dem Soldaten mit Handgranate und Panzerfaust, Kämpfen bis zum Tod. Obwohl er um ein Vielfaches kleiner ist als die Mutter Heimat, verdeckt er sie, wenn man vor ihm steht, alles eine Frage der Perspektive. Ein Einzelner kann die Heimat retten. Die 200 Stufen bewältigen an diesem Tag auch Mädchen in Stilettos und Minirock, den Freund an der Hand. Kein Platz für Verliebte, aber in Stalingrad gehen die jungen Familien auch mit den Kleinkindern ins Militärmuseum.

Zurück auf dem Hügel, auch Anhöhe 102 genannt. Jede Stunde ist Wachablöse mit preußischem Schritt. Früher durften die Gardesoldaten nur blond sein, mussten blaue Augen haben und Slawen sein. Jetzt wurde diese Bestimmung gelockert, auch Brünette und Braunäugige dürfen Fuß und Arm abwechselnd schwingen. Und dann der Blick auf die Mutter Heimat, eine der größten Skulpturen der Welt, mit Sockel und Schwert 85 Meter hoch, alleine das Schwert ist 33 Meter lang. Um zum Sockel zu kommen, muss man über das Massengrab von 38.000 sowjetischen Soldaten gehen. Am Fuß der Statue liegt auch Wassili Iwanowitsch Tschuikow begraben, der Befehlshaber der 62. Armee, die die Hauptlast der Verteidigung der Stadt getragen hat. Es war sein ausdrücklicher Wunsch, hier 1982 seine letzte Ruhe zu finden. Tropfen fallen von der Mutter Heimat, sie fallen lange, jeder einzelne kann verfolgt werden.

Veteranen beider Seite treffen sich zu den Gedenktagen, sie trinken gemeinsam und erinnern sich. Eine sonderbare Freundschaft. Sie verstehen sich besser, als sie verstanden werden. Vielleicht kommen die Deutschen und Österreicher auch deswegen so gerne nach Stalingrad, weil sie hier verstanden werden und hier so richtig auch Opfer sein können. An die Toten erinnern, aber ihre Taten nicht vergessen. Das ist die Mahnung. Meine Begleiterin Tatjana, die die Schlacht und die kämpfenden Einheiten ohne Zögern aufsagen kann, meint, es müsse doch Versöhnung geben, es sei doch schön, wenn die Veteranen heute so zusammenkommen. Friede und Verzeihen. Aber ohne die Taten der Wehrmacht

http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/733194/print.do Seite 2 von 4

DiePresse.com 18.06.13 18:06

aufgezählt zu bekommen? Sie wundert sich über meinen Zugang. Der Versöhnungsbund hat im kleinen Dorf Rossoschka die deutschen Toten der Umgebung in einem großen Friedhof zusammengeholt. Auf Granitblöcken sind die Namen der Vermissten eingraviert, 140 Blöcke sollen es sein. Um das Gräberfeld abzugehen, an den Namensplatten vorbei, dafür benötigt man schon einige Zeit. Der Wind bläst. Der Versöhnungsbund hat im Dorf eine Grundschule gebaut und ein Begegnungszentrum, hier wird geheiratet und gewählt und hier kommen die Jugendlichen zusammen, die im Sommer die Gräber pflegen. Die Deutschen pflegen die russischen Gräber, die Russen die deutschen Gräber. In der kleinen Ausstellung werden drei Einzelschicksale von Soldaten geschildert. Dass die Deutschen und Österreicher auch Täter waren, was sie auf ihrem Weg angerichtet haben, kommt hier nicht so richtig zur Sprache. Wäre es zu viel für die Angehörigen, dies hier lesen zu müssen?

Ein Tag in Stalingrad, und ich gehe über das Massengrab von 38.000 Russen auf dem Mamajew-Hügel und 52.000 Toten in Rossoschka und dann, auf der anderen Straßenseite, nochmals 18.000 Russen, und die, die nicht beerdigt wurden, die sind gar nicht mitgezählt. Dafür geht es mir am Abend gut, überraschend gut.

Der Volksbund hat eine Schule gebaut, und die Österreicher haben eine Stahlpyramide aufgestellt. Eine Pyramide im Schlamm,ein Erinnerungszeichen. Für wen eigentlich? Ein Zeichen, das die heute dort Lebenden erinnert, was hier geschehen ist? Wenn wir eine Schule, einen Kindergarten dort gebaut hätten, wäre das sinnvoller. Ist doch sonderbar, wir, die wir als Österreicher durch Jahrzehnte „Opfer“ waren, nicht so richtig dazugehört haben zur Wehrmacht, sind jetzt die Einzigen, die dort ein Denkmal haben.

An die Toten erinnern, aber ihre Taten nicht vergessen. Dies ist ein Ziel meiner Reise auf den Spuren von General Karl Eibl, der sich mit der 385. Infanteriedivision aus dem Kessel von Stalingrad absetzen konnte. Nach der Spurensuche im Rahmen des Projekts des Österreichischen Zukunftsfonds in der Ukraine nun das Finale in Russland. Auch mein Rückzug hinter den Don ist geglückt. Zehn Stunden Fahrt, fast ohne Pause, mit einem Navigationsgerät, einem Fahrer und zwei Beifahrerinnen. Ändert sich die Landschaft? Nach Wolgograd ist die Ebene noch von kleinen Schluchten durchsetzt, dann wird es flacher. Zeichen sind in die Landschaft geschrieben, als wäre Anselm Kiefer hier vorbeigekommen. Wir überqueren den Don. Die Sonne scheint fast auf den Hügelkuppen zu hüpfen. Rossosch, die Lichter der Stadt, kleine Häuser, maximal ein Stock, eine große Kirche, wir fahren über die Kalitwa, das ist der Fluss, über den sich die Deutschen und Italiener im Jänner 1943 abgesetzt haben.

Italiener kommen heute häufig nach Rossosch, erfahre ich. Familien auf der Suche nach den Vätern. Die Italiener haben im Ort auch einen Kindergarten gebaut. In der Nacht höre ich im Hotel viele Stimmen, nicht die Toten melden sich, die Fernsehgeräte der umliegenden Gäste kommen nicht zur Ruhe.

Ich bin im Mittelpunkt der „Ostrogoschsk-Rossoscher Offensive“ angelangt, die von 13. bis 27.Jänner 1943 dauerte. Lang wurde diese Schlacht auch von sowjetischen Historikern nicht besonders gewürdigt, später hat man diese Kämpfe als „Stalingrad am oberen Don“ bezeichnet. Die Bilanz der Operation, schreibt die Historikerin Svetlana Vasiljevna Markova aus Woronesch: 15 feindliche Divisionen vernichtet und 86.000 deutsche, ungarische und italienische Soldaten und Offizier gefangen genommen.

Direkt vom Hotel fahren wir ins Zentrum, als solches ist es nicht sofort zu erkennen. Ein Gebäude unterscheidet sich, ein wenig südländischen Charme versprüht es. Jener Kindergarten, den die italienischen Veteranen zwischen 1992 und 1993 gebaut haben. Rechts vom Gebäude ein Eingang, der Weg zum Museum, das sich im Keller befindet. Ailim Morosow, ein freundlicher älterer Mann mit leuchtenden Goldzähnen, empfängt mich, und gleich zu Beginn macht er eines klar: „Hier in Rossosch sind gleich drei deutsche Generäle gefallen. General Martin Wandl, General Karl Eibl und General Arno Jahr .“

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DiePresse.com 18.06.13 18:06

Ailim ist in seinem Element und erläutert die Operation. Seit 30 Jahren betreibt er dieses Museum, sein Gehalt wird bezahlt, aber sonst bekommt er keine Förderung. Er möchte gerne Putin im Museum begrüßen, und er möchte ihm alles zeigen und glaubt fest daran, dass dieser dann zu dem Schluss kommt, dass die Geschichte dieser Stadt nicht weiterhin im Bunker gezeigt werden soll. Meine Begleiter aus Rossosch waren noch nie im Museum. Sie meinen, der Zeit des Kriegs werde nicht mehr richtig gedacht, wenn aber vergessen wird, dann beginnt der neue Krieg. Viele Kriege haben in der Zwischenzeit begonnen, das Vergessen ist sicherlich nicht daran schuld.

Als wir am Vormittag des 16. Jänner ankommen, ist alles für die Feier aufgebaut, die Befreiung von Rossosch, junge Soldaten stehen herum, werfen sich Mineralwasserflaschen zu, der Pope baut seinen mobilen Altar auf, aus dem Lautsprecher Soldatenlieder. Ein Soldat singt von der Schlacht in einem Dorf und er erinnert an alle, die gefallen sind.

In einer Stunde habe er Zeit, meint Ailim, dann könne er mich zum Platz führen, an den Fluss Kalitwa, wo Karl Eibl tödlich verwundet wurde. Die Bäume auf dem Weg von Rossosch nach Nova Charkowka sind alle unschuldig, keiner hat den Krieg erlebt, alle Bäume hier sind erst später gepflanzt worden. Die Sonne kämpft sich durch den Hochnebel, eine verschneite Winterlandschaft.

Die Geschichte des Karl Eibl, der von einer italienischen Granate getötet wurde, hätten alle Italiener immer bezweifelt und in Zweifel gezogen, Ailim tut es auch, alles sei unbewiesen.

Am Don und an der Kalitwa wurde das Ende des deutsch-italienischen Waffenbündnisses besiegelt, die gereizte Stimmung, die Vorwürfe und das Misstrauen haben sich während der Flucht auch in gewaltsamen Aktionen entladen.

Ich klettere den Abhang hinunter, der Baum neben der Brücke ist schnell ausgewählt der Draht entrollt, Erinnerungsplakate in Russisch und Deutsch sind schnell angebracht. Seit 16. Jänner 2012 hat General Karl Eibl einen Gedenkbaum an der Kalitwa.

Ich trage mich ins Gedenkbuch im Museum ein. Und wenn ich dann zu Hause bin, muss ich die Akten aus dem Militärarchiv Freiburg sichten, wie viele Partisanen die Einheit von Eibl auf ihrem Weg nach Stalingrad erschossen hat. ■

© DiePresse.com

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Video

Ein Publikumsgespräch mit Dr. Robert Streibel nach der Vorstellung vom 25.6.2013 von "Winterreise - ein Gewaltmarsch"

Clip

Aufführung:
21. - 23. Juni 2103 im
Brick-5 (Fünfhausgasse 5, 1150 Wien)

Wiederaufnahme
16., 17., 18., 19., 24., 25. & 26. Jänner 2014 im
Brick-5 (Fünfhausgasse 5, 1150 Wien)

Wiederaufnahme die 2te
6., 7. & 9. November 2014 im Brick-5
8. November 2014 im Kloster Und bei Krems